Schneckenschneiden
Wendel Schäfer
Dietmar Fölbach Verlag 
Kurzprosa, 2000
ISBN 3-934795-08-0
144 S. DM 24,80
Titelgestaltung: Michael Schaffer,
Grafiken: Cornelia Kurtz
http://www.galerieschaffer.de

 
Wendel Schäfer-Schneckenschneiden
 
gebraucht und neu bei Amazon.de
 
oder im Antiquariat bei AbeBooks.de

 

Meinungen

"Wendel Schäfers Buch ist eines der bemerkenswertesten Bücher, die unsere literarische Gegend in letzter Zeit hervorgebracht hat."
Udo Marx in Krautgarten, Nr. 38, 2001

"... die Wortwahl Schäfers schockiert ... doch er provoziert absichtlich, um den Leser wachzurütteln."
Pia Seibert, Rhein-Zeitung, Jan. 2001

Leseprobe

Durch den Regenbogen

"Ihr tragt etwas", fragt der Zufälligvorbeikommende den hinteren Träger, weil der ihm sein Gesicht zuwendet.

"Ja, wir tragen etwas."

"Ist es schwer?"

Weil der Träger nicht antwortet, tritt der Zufälligvorbeikommende näher und wendet seine Richtung, um mit der Gruppe zu gehen. Kommt aber nicht zu nahe heran. Vorsichtshalber. Die beiden tragen eine Leiter wie eine Bahre. Klobige Hände umklammern die Rundbalken. In der Mitte auf den Sprossen, auch zwischen den Leiterrippen, wie reingeflochten etwas Weißschlaffes, Gallertertiges mit etwas Durchhängendem bis auf die Erde. Es sieht nach Flügeln, Armen, Flossen aus. Vielleicht auch nur Gedärm aus einem geschlitzten Bauch. Schleift über den Boden mit. Das Ding keucht und stöhnt auf bei jedem Schritt der Träger. Obwohl sie sich Mühe geben.

"Muss verwundet sein", fährt der Zufälligvorbeikommende fort.

"Kann auf keinen Fall alleine gehen."

"Fliegen auch nicht."

"Wieso fliegen?"

"Sieht halt so aus, als wären da Flügel."

"Vielleicht sind sie gebrochen ", gibt der Träger zurück und zuckt mit den Schultern, dass die Bahre ein wenig verkanntet und das Stöhnen anschwillt.

"Gebrochen, ja, aber es ist kein Vogel."

"Vielleicht ein Engel, ein verwundeter Engel. Engel sind leicht. Lassen sich angenehm tragen."

"Oder ein geflügelter Teufel", feixt der Zufälligvobeikommende zurück.

"Teufel sind dunkel. Ich glaube aber, wir tragen etwas Helles."

"Ich glaube. Wieso, ich glaube?"

"Ich glaube es, weil ich nicht sehen kann. Bin von Geburt an blind."

"Entschuldigen Sie. Sie gehen also nur mit. Trotten hinterher. Dann will ich lieber mal den Vordermann..."

"Ihn brauchen Sie nicht fragen", stoppt der Blinde. "Er ist taubstumm. Geht nur nach vorne. Schaut nie zurück und achtet sehr auf den Weg,

damit ich nicht strauchele. Wir wollen nicht abkommen und unnötig wehtun."

Der vordere Träger ist ein sehr kräftiger Mann. Er hat einen steifen Hut wie eine Schüssel auf den Kopf gedrückt. Unter dem Rand stechen scharfe Augen in eine gleichförmige, wolkenverhangene Ebene.

"Also, was tragen Sie nun da auf der Bahre?" will der Zufälligvorbeikommende wissen und wendet sich wieder dem hinteren Träger zu.

"Die Sonne wird gleich durchkommen."

"Sonne? Jetzt gleich?"

"Sonne. Endlich, nach vielen Wochen. Wird uns drei guttun."

"Ich frage nach dem Ding auf der Leiter, und Sie faseln was von Sonne."

Der Zufälligvorbeikommende erinnert sich an seine Blindheit und tritt näher an die Bahre heran. Nicht zu nahe. Vorsichtshalber. Da kauert es, halb sitzend, halb liegend in die Sprossen genestelt. Mit weißer Haut und rosa im Innern. Schimmert durch wie in Aspik gebettet. Alles wappt und wabbelt im Pendelschritt der Träger. Und dann das gleichtönige Schleifen über steinige Erde. Mit einer glitschigen Spur so weit er zurückschauen kann.

"Wohin geht es denn mit der Fracht? Ihr werdet doch wenigsten wissen..."

"Vor uns wird bald ein Regenbogen sein."

"Regenbogen. Erst Sonne, jetzt Regenbogen."

"Ja, ohne Sonne kein Regenbogen, da kenne ich mich aus."

"Regenbogen! Hier in dieser trostlosen Gegend. Wir sind auf dem Mond, verstehen Sie. Es ist hier wie auf dem Mond", gibt der Zufälligvorbeikommende nun schon ärgerlich zurück.

Er hätte nicht herkommen sollen. Nichts wie weite, flache, öde Erde. Sandige Wüste mit abertausend Steinen übersät. Wie sicher der vordere Träger alle Hindernisse umgeht. Klar, der Hintermann darf nicht ins Stolpern kommen. Und die Last noch mehr quälen. --- Nein, er hätte nicht herkommen sollen.

"Warum tragen Sie denn..."

"Es wird bald Wasser geben", unterbricht ihn der Blinde.

"Wasser? Hier?"

"Ja, viel Wasser. Sie müssten es eigentlich vor uns sehen."

"Wie kommen Sie denn auf die Idee...?"

"Wasser riecht man. Und wenn mir dann die Sonne in den Nacken brennt, gibt es einen Regenbogen."

"Sonne – Wasser – Regenbogen. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber..."

"Sie stören nicht, ich trage ja nur."

Der Zufälligvorbeikommende bleibt jetzt stehen und schaut der Gruppe hinterher. Sieht, wie sie sich sicher und zielstrebig auf ein großes Wasser zubewegt, in kleine Wellen stapft, dann bis zu den Knien, Hüften, Hals ins Wasser steigt und dann wegtaucht. Von der Bahre erhebt es sich mit wuchtigen Flügelschlägen, klatscht das Wasser, dass Perlenschnüre in der Sonne aufklitzern, hebt ab, schwebt höher und verschwindet durch einen Regenbogen in den Himmel. Aber es ist kein Vogel --- Nein, er hätte nicht herkommen sollen.

Weitere Leseproben hier!

 

Alle Rechte vorbehalten © by Wendel Schäfer 2000 - 2011
(webmaster Michael Schaffer)

Zurück zur Eingangsseite