Schneckenschneiden
Wendel Schäfer
Dietmar Fölbach Verlag 
Kurzprosa, 2000
ISBN 3-934795-08-0
144 S. DM 24,80
Titelgestaltung: Michael Schaffer,
Grafiken: Cornelia Kurtz
http://www.galerieschaffer.de
 
Wendel Schäfer-Schneckenschneiden
 
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Meinungen

"Wendel Schäfers Buch ist eines der bemerkenswertesten Bücher, die unsere literarische Gegend in letzter Zeit hervorgebracht hat."
Udo Marx in Krautgarten, Nr. 38, 2001

"... die Wortwahl Schäfers schockiert ... doch er provoziert absichtlich, um den Leser wachzurütteln."
Pia Seibert, Rhein-Zeitung, Jan. 2001

Leseprobe

Triebtäter

Pflanzen lassen sich gut beobachten, weil sie sich unter anderem wenig bewegen. So wie Melchior Hegner. Ein fetter, früh aus dem Dienst verwiesener Ministerialbeamter. Konnte nach jahrelanger sessiler Beobachtung seiner Arbeit endlich eine handfeste Psychose vorweisen. Aktenphobie. Hatte alle Ordner, die ihm in die Hände fielen, drei Wochen hintereinander zum Fenster seines Büros hinaus geworfen. Melchior Hegner war ein akribischer Beobachter. Besonders, wenn es sich um langsame Vorgänge handelte. Hatte sich zu einem passionierten Pflanzler entwickelt. Und nachdem man ihm gewaltsam den Schlafmohn aus Kästen und Kübeln seines Dachgartens genommen hatte, konzentrierte er seine Leidenschaft auf Kakteen – Cactoceae. Erkannte sich in ihnen wieder. Borstig, fleischig, sukkulent. Am Ende kultivierte er seine Beobachtungskraft zu einer Meisterschaft, dass er selbst die Langsamsten wachsen sehen konnte. Dabei hockte er sich vor sie hin, stemmte seine Massen gegen ein Tischchen, die Kiste Bier, verflüssigte Pflanzen alles, in Reichweite und beobachtete.

Bei der allmorgendlichen Kakteenvisitation entdeckte er eine Distel. Musste sich in e i n e r Nacht Platz geschaffen haben und überragte mit mehreren Seitentrieben eine zu Tod erschrockene und über die Maßen gekränkte Pereskia. ‚Luder‘, und zog mit fettgepolsterten Fingerkuppen die Fremde heraus. Gemeine Eselsdistel – onopordum acanthia – diagnostizierte er und pferchte sie in eine vom Abend noch halbvolle Bierflasche. Postierte sie auf das Tischchen, brachte eine neue Kiste in Stellung, pflanzte sich davor und beobachtete. Melchior war stolz, die Blindgängerin aus seinen 2000 Zöglingen herausgefunden zu haben. Sah sie doch mit ihren borstigen Köpfen einigen seiner Favoritinnen zum Verwechseln ähnlich.

Bei Melchior Hegner war alles anders. Was er tat, kam von innen getrieben, groß und total. Seine Ausdauer speiste sich aus beleibter Bequemlichkeit und einer tief gelagerten Anteilnahme. Intrinsische Motivation wusste er für diese Kunst anzugeben. Sowieso hatte Melchior für fast alle Vorgänge und Zustände von Belang Lateinisches parat. Stand dem Beamten admirabel zu Gesicht und hinterließ neben seinen Aktenwürfen den nachhaltigsten Eindruck im verflossenen Amt.

Nach der fünften Flasche tat sich noch nichts. Nur ein Spinnchen kackte Fäden von einer Kapsel zur anderen. Nach der achten war ein Ohrwurm auf die Tischplatte gefallen, den er sofort mit einem ‚Sauwurm‘ und gezieltem Flachhandschlag von seinem unnützen Dasein erlöste. Musste hervorgekrabbelt sein, als er pinkeln war. In einem der kritischsten Momente also, in denen er notgedrungen seine Objekte aus den Augen lassen musste. Nach der zwölften Flasche torkelte eine ‚Scheißmotte‘ ein. Brachte sie mit einem explosiven Bierpuster rasch zum Absturz.

Am Nachmittag brannten ihm die Augen, dass er die Sitzung für heute beenden wollte. --- Da öffnete die Distel ihre Köpfe. Und gebar Weißes. Schirmchen, Samen, wie bei der Pusteblume. Sie quollen hervor, lösten sich aus den Kelchen und blähten schaumig auf.

Melchior überkam Unruhe, trieb Schweiß aus, nässte den trockenen Schlund mit e i n e r Flasche auf einmal und schärfte seinen stumpf gewordenen Blick mit einer Karaffe Himbeergeist. Und immer mehr weißer Flaum sprudelte aus den stacheligen Bechern, floss die Flaschenwand herab wie überkochende Milch. Die wattige Flut kroch bereits über den Tisch und verschaffte sich Bahn durch Gläser und Flaschen, griff zum Kopf des Botanikers, verklebte sich und nahm Besitz.

Der lag längst mit dem Gesicht auf die Tischplatte geknallt. Atmete schwer wie ein Fisch auf hartem Land zwischen Scherben, Blut und Kotze.

Melchior musste bis in den nächsten Tag gelegen haben, bis er endlich den Schädel hob. Durch verklebte Sehschlitze konnte er vor sich ein Gewächs ausmachen, das mit geöffneten Köpfen wie kleine Sönnchen auf ihn einstrahlte. --- Im gegenüberstehenden Fensterglas erkannte er einen unförmig wattierten Kopf. Monströs gequollen mit buschigen und aufgefederten Ohren. Das meiste hatte sich am schmierigen Mund zu einem gezogenen Maul verklebt.

Mit einem Ruck stemmte sich Melchior hoch, dass das Tischchen brach und die Flaschen wie Kegeln purzelten. Mit einem Tritt knallte er die vermaledeite Eselsdistel gegen einen Kübel, dass die strohigen Sönnchen zerplatzten. Dann stürzte er die Treppen runter, wuchtete über den Hof, durch Büsche und Gärten, überlief einen Spielplatz, wo ihm Sandkastenkinder nachriefen, dass er etwas zurückgeben musste, das sich wie das heisere, kehlige Bellen eines Esels anhörte und irgendwo verebbte und Melchior nicht wiederkam, so dass die Dachwohnung neu vermietet werden konnte.

 

 

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