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Wendel Schäfer-Schneckenschneiden |
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Meinungen
"Wendel Schäfers Buch ist eines der bemerkenswertesten Bücher,
die unsere literarische Gegend in letzter Zeit hervorgebracht hat."
Udo Marx in Krautgarten, Nr. 38, 2001
"... die Wortwahl
Schäfers schockiert ... doch er provoziert absichtlich, um den Leser
wachzurütteln."
Pia Seibert, Rhein-Zeitung, Jan. 2001
Leseprobe
Triebtäter
Pflanzen lassen sich gut beobachten, weil
sie sich unter anderem wenig bewegen. So wie Melchior Hegner. Ein
fetter, früh aus dem Dienst verwiesener Ministerialbeamter. Konnte nach
jahrelanger sessiler Beobachtung seiner Arbeit endlich eine handfeste
Psychose vorweisen. Aktenphobie. Hatte alle Ordner, die ihm in die
Hände fielen, drei Wochen hintereinander zum Fenster seines Büros
hinaus geworfen. Melchior Hegner war ein akribischer Beobachter.
Besonders, wenn es sich um langsame Vorgänge handelte. Hatte sich zu
einem passionierten Pflanzler entwickelt. Und nachdem man ihm gewaltsam
den Schlafmohn aus Kästen und Kübeln seines Dachgartens genommen
hatte, konzentrierte er seine Leidenschaft auf Kakteen – Cactoceae.
Erkannte sich in ihnen wieder. Borstig, fleischig, sukkulent. Am Ende
kultivierte er seine Beobachtungskraft zu einer Meisterschaft, dass er
selbst die Langsamsten wachsen sehen konnte. Dabei hockte er sich vor
sie hin, stemmte seine Massen gegen ein Tischchen, die Kiste Bier,
verflüssigte Pflanzen alles, in Reichweite und beobachtete.
Bei der allmorgendlichen Kakteenvisitation
entdeckte er eine Distel. Musste sich in e i n e r Nacht Platz
geschaffen haben und überragte mit mehreren Seitentrieben eine zu Tod
erschrockene und über die Maßen gekränkte Pereskia. ‚Luder‘, und
zog mit fettgepolsterten Fingerkuppen die Fremde heraus. Gemeine
Eselsdistel – onopordum acanthia – diagnostizierte er und pferchte
sie in eine vom Abend noch halbvolle Bierflasche. Postierte sie auf das
Tischchen, brachte eine neue Kiste in Stellung, pflanzte sich davor und
beobachtete. Melchior war stolz, die Blindgängerin aus seinen 2000
Zöglingen herausgefunden zu haben. Sah sie doch mit ihren borstigen
Köpfen einigen seiner Favoritinnen zum Verwechseln ähnlich.
Bei Melchior Hegner war alles anders. Was
er tat, kam von innen getrieben, groß und total. Seine Ausdauer speiste
sich aus beleibter Bequemlichkeit und einer tief gelagerten Anteilnahme.
Intrinsische Motivation wusste er für diese Kunst anzugeben. Sowieso
hatte Melchior für fast alle Vorgänge und Zustände von Belang
Lateinisches parat. Stand dem Beamten admirabel zu Gesicht und
hinterließ neben seinen Aktenwürfen den nachhaltigsten Eindruck im
verflossenen Amt.
Nach der fünften Flasche tat sich noch
nichts. Nur ein Spinnchen kackte Fäden von einer Kapsel zur anderen.
Nach der achten war ein Ohrwurm auf die Tischplatte gefallen, den er
sofort mit einem ‚Sauwurm‘ und gezieltem Flachhandschlag von seinem
unnützen Dasein erlöste. Musste hervorgekrabbelt sein, als er pinkeln
war. In einem der kritischsten Momente also, in denen er notgedrungen
seine Objekte aus den Augen lassen musste. Nach der zwölften Flasche
torkelte eine ‚Scheißmotte‘ ein. Brachte sie mit einem explosiven
Bierpuster rasch zum Absturz.
Am Nachmittag brannten ihm die Augen, dass
er die Sitzung für heute beenden wollte. --- Da öffnete die Distel
ihre Köpfe. Und gebar Weißes. Schirmchen, Samen, wie bei der
Pusteblume. Sie quollen hervor, lösten sich aus den Kelchen und
blähten schaumig auf.
Melchior überkam Unruhe, trieb Schweiß
aus, nässte den trockenen Schlund mit e i n e r Flasche auf einmal und
schärfte seinen stumpf gewordenen Blick mit einer Karaffe Himbeergeist.
Und immer mehr weißer Flaum sprudelte aus den stacheligen Bechern,
floss die Flaschenwand herab wie überkochende Milch. Die wattige Flut
kroch bereits über den Tisch und verschaffte sich Bahn durch Gläser
und Flaschen, griff zum Kopf des Botanikers, verklebte sich und nahm
Besitz.
Der lag längst mit dem Gesicht auf die
Tischplatte geknallt. Atmete schwer wie ein Fisch auf hartem Land
zwischen Scherben, Blut und Kotze.
Melchior musste bis in den nächsten Tag
gelegen haben, bis er endlich den Schädel hob. Durch verklebte
Sehschlitze konnte er vor sich ein Gewächs ausmachen, das mit
geöffneten Köpfen wie kleine Sönnchen auf ihn einstrahlte. --- Im
gegenüberstehenden Fensterglas erkannte er einen unförmig wattierten
Kopf. Monströs gequollen mit buschigen und aufgefederten Ohren. Das
meiste hatte sich am schmierigen Mund zu einem gezogenen Maul verklebt.
Mit einem Ruck stemmte sich Melchior hoch,
dass das Tischchen brach und die Flaschen wie Kegeln purzelten. Mit
einem Tritt knallte er die vermaledeite Eselsdistel gegen einen Kübel,
dass die strohigen Sönnchen zerplatzten. Dann stürzte er die Treppen
runter, wuchtete über den Hof, durch Büsche und Gärten, überlief
einen Spielplatz, wo ihm Sandkastenkinder nachriefen, dass er etwas
zurückgeben musste, das sich wie das heisere, kehlige Bellen eines
Esels anhörte und irgendwo verebbte und Melchior nicht wiederkam, so
dass die Dachwohnung neu vermietet werden konnte.
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