ATEMKÜNSTE (Metamorphosen und Miniaturen)
Wendel Schäfer
Kurzprosa mit vier Grafiken des Autors
Titelgestaltung Michael Schaffer
edition KRAUTGARTEN, St. Vith, 2010
ISBN 978-2-87316-036-4
83 Seiten12 Euro

 

 
Wendel Schäfer-Atemkünste
 
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Meinungen

ATEMKÜNSTE- fassbar, greifbar, phantasiereich, lebensnah, etwas verückt wie das Leben nun einmal sein kann. 'O poetes, soyez fous!' Arhur Rimbaud.
Die Graphiken finde ich gut, sie passen in die in ihren vielseitigen Schattierungen schlichte, nüchterne Sprache.'

Robert Schaus, Autor und Objektkünstler, Malmedy (B)

 

Wendel Schäfer, der Bopparder Autor, einer der produktivsten und vielseitigsten Autoren des Landes überzeugt auch mit Metamorphosen und Miniaturen. Atemkünste-Prosa, die es in sich hat und einem fast den Atem raubt.

W. Wendling, Rhein Zeitung

 

Wendel Schäfers Miniaturen und Metamorphosen stehen in einer nahezu verwaisten Tradition, die von Ovid über Borges bis Canetti reicht. Sie sind da angesiedelt, wo sich Animalisches, Botanisches und Menschliches mischen und man mehr über unsere Ursprünge, Abgründe, Ängste und Sehnsüchte erfahren kann als in den meisten fettleibigen Romanen und theoretischen Abhandlungen. Was uns da so skurril und verschroben anspricht, ist etwas ganz und gar Eigenes, das unser Eigenstes im wahrsten Sinne des Wortes angeht.
 
(Prof. Klaus Wiegerling, Kaiserslautern)
 

 

Schäfers Kurzprosa beschreibt die ganz eigenen Welten verschiedener skuriller Charaktere und liegt mit seiner durchgehenden Entrücktheit wohl recht quer zum literarischen Tagesgeschäft. Die Geschichten zeichnen Intrinsisches und Verworrenes der Akteure nach und haben die Gemeinsamkeit, daß diesen im Zuge einer unheilvollen Dynamik die Dinge komplett entgleiten und ihnen schließlich Ungeheures widerfährt. Denn deren verschrobene, anfänglich eher harmlose Aktionen führen durch unerwartete Mutation ganz neue, ungeahnte Ereignisse herbei. Diese sind oft terminal, zumindest katastrophal, dabei dunkel bis schwarz unterhaltsam...und lehrreich!

(Michael Schaffer, Lahr)

 

In Wendel Schäfers Kurzgeschichtenband tummeln sich viele skurrile Figuren. Sie ähneln Tieren und Pflanzen, entfalten in schrecklichen Idyllen ihre private Logik. Sie denken sich die Welt schön, entwickeln unsinnige Überlebensstrategien, die sie in den Untergang führen. Diese tragikomischen Geschichten sein brillant geschrieben, sehr phantasievoll und so erbarmungslos wie der Tod, den die Akteure am Ende erleiden. Es geht dem Autor nicht um die genüssliche Schilderung von Grausamkeiten. Ein satirischer Unterton schwingt immer mit, der den Leser versöhnt.
Der Autor lässst die wandelbaren Halbwesen  nach ihrem Tod eine tierische oder pflanzliche Form annehmen. So erscheint der Mensch als Kreatur, eingebunden in den natürlichen Kreislauf von Werden und Vergehen, jedoch mit einem Geist, der sich von der Wirklichkeit losgelöst hat und dafür eine natürliche Strafe erhält. Das Büchlein ist eine Warnung vor menschlicher Hybris, die sich gegenwärtig in dem Glauben an ewiges Wachstum deutlich zeigt. Ein Buch, das zum Nachdenken anregt.  

(Gerd Küppers, Lehrer/Schriftsteller, Heimbach-Weiss) 

 

...mit Atemkünste (Metamorphosen und Miniaturen) stellt sich Schäfer in eine lange literarische Tradition, die mit Ovid beginnt und bis in unsere Gegenwart reicht. In kurzen Texten, manchmal sind es nur einige Zeilen, entwirft Schäfer mit wenigen präzisen Sätzen abgeschlossene, mitunter sehr skurrile Welten. ... Genau so wie Kafka in seiner Erzählung zeigt Schäfer minutiös den Ablauf der Verwandlungen.  ... Die Metamorphosen  und die daraus entstehenden Traumwelten verweisen uns auf unsere eigenen Daseinsängste und die Sehnsucht, aus unserer bürgerlichen Existenz auszubrechen. Gleichzeitig machen uns Wendel Schäfers Erzählungen aber auch klar, dass eine Verwandlung zu keinem Ausweg führt, und ein Scheitern  vorprogrammiert ist: Insofern enthalten sie, genauso wie seine Aphorismen und Epigramme, grundlegende Wahrheiten - für jeden von uns.  

(A. Strasser in Krautgarten, (Forum für junge Literatur), St. Vith Nr. 57, Nov. 2010

 

 

Leseproben

Taubenblut

In beiden gehöhlten Händen wie in einer Muschel hält das Kind die junge Taube zu ihrem ersten Flug mit einem Briefchen am Fuß, Gekritzeltes an die Bäume vor der Mauer, die reisigen Wolken über der Mauer und die Berge jenseits, wo die guten Geister wohnen, wie der Vater so oft erzählt hat, bis sie ihn aus dem Haus rausgeholt haben, mit der Taube in offenen Händen angelehnt an die Wand, die sie ihnen bei Nacht und Nebel durch den Garten aufgetürmt haben, mit Drahtrollen draufgespickt mit Messerchen wie Rasierklingen und auf den Lippen das Liedechen, das das Kind schon von der Großmutter kannte, 'Flieg, Täubchen, flieg, die Falken machen Krieg' und jetzt die Klage mauerwärts von der Mauer hinter dem verbauten Fenster, bis geschreckt durch einen Schuss die Taube aufjagt, hochsteigt, oben im Drahtgeflecht anschlägt, dass Federchen regnen und rote Spritzer die gekalkte Wand beflecken, die Taube vielleicht nicht ankommen wird und wohl nicht zurückfindet, wo das Kind mit Nass in den Augen hoch blickt zur Mutter mit dem Liedchen 'Flieg, Täubchen, flieg, die Falken machen Krieg' und dann noch, als Regen längst das Rot von der Mauer gewaschen und den Fuß des bleichen Monsters gefärbt hat, 'Flieg, Täubchen, flieg...'

 

Röhrlinge

...und stopften ihn ein paar Meter tief in eine enge nach unten sich verjüngende Betonröhre, wo er mit auf dem Rücken gebundenen Händen harren musste, ohne ausreichend Luft, das Licht bloß kleine Streifen durch den Gullideckel über sich. Trank, was Regen durch die Gosse runterschwemmte, und er spürte, wie sich etwas an seiner Seite hoch wand, empor kroch - wie Geknotetes erst, ein Stab dann durch sein dünnes Zeug um den Leib, biegsamer, glatter, weiter am Hals, und feucht ins Gesicht, wo er bloß mit der Zunge das Fremde niederhalten konnte, bis sie krampfte und lahm hing, und er sich so ergab, dass man Jahre später bei einem größeren Aushub auf eine Leiche stieß, halb verwest, halb im Lehm mumifiziert mit raushängender Zunge lang wie eine Schlange.

 

Der Zeitgeber

Dass die Zeiger grosser Uhren sich mehr beeilen müssen, also schneller drehen, um über die Runde zu kommen, ist einleuchtend.
Für Erdfried Uhrich wenigstens. Einen für Sonderheiten hellen, ansonsten sehr betulichen Kopf.
Er liebte die Langsamkeit, pflegte sie und gönnte sie seinen Mitmenschen. Schmähte die Eile, mied Drängeln und Unrast. Alles erledigte er mit Bedacht und aufreizender Behäbigkeit des Körpers vom Kopf bis zu den Füßen runter. Das `Faultier´ von Umtriebigen prallte an ihm ab. Faultiere haben Millionen Jahre überlebt. Sind beständiger als alle die kurzlebigen Schnellfüßler. Auch das mag einleuchten. Dem Uhrich sowieso.

Zunächst stieß die Idee mit den kleinen und kleinsten Uhren mit winzigen Zeigern auf wenig Verständnis und Gegenliebe. Erdfried ließ sich aber nicht beirren. Waren sie wegen ihrer Langsamkeit doch eher geeignet, den Menschen mehr Ruhe und Muße für das Eigentliche zu verschaffen.
In einem Heim mit älteren Mitbewohnern meist, konnte er seine gewiss zeitlose Idee der Uhrenverkleinerung und Zeitvergrößerung ohne Mühe verwirklichen..Bei seinen Zimmergenossen fing er an. Die waren schnell zu überzeugen, weil sie jetzt viel mehr Zeit brauchten für das und jenes. Erdfried besorgte von überall her Uhren so klein wie Briefmarken, ja 1 Cent Münzen.

Am Ende waren die Uhren so klein, dass sie niemand mehr lesen oder aufziehen konnte. Dann bastelte er Ührchen aus Spanholz oder Pappe mit Zeigerchen, die nur noch mit gespitzem Fingernagel oder einer Nadel weitergeschoben werden konnten. Die Insassen gewöhnten sich auch daran und gaben es endlich auf, nach der Zeit zu schauen. Fütterungen zwischen Licht an und Licht aus, oder Läden rauf und runter wahren ihnen Tageslauf genug. Sie alle schienen glücklich. Und Erdfried Uhrich ging mit geschwellter Brust.

Es war bei einem der nur noch seltenen Ausgänge.Quer durch den Park der Anstalt über den Marktplatz. Vorbei an einer großen Uhr auf gläsernem Sockel. Erdfied Uhrich überkam es, er griff den Papierkorb daneben und zerschlug das Machwerk. Als das wieder mal am Bahnhof passierte und später mit Drohungen hoch zum Kirchturm zu eskalieren drohte, blieb der Freigang für Erdfied Uhrich gesperrt.

Er blieb jetzt allein im Zimmer. Durch die Gitter seines Zellenfensters nur der Blick auf eine große Rathausuhr, die ihm den Rest des Lebens im Vierteltakt zerhackte.

 

Atemkünstler

Obwohl Friedhofsgärtner Johannes in ein fortgeschrittenes Alter geraten war, war er immer noch der Hansi bei allen, die ihn kannten. Hansi hatte es mit der Luft. Schon als Kleinkind brauchte er besondere Fläschen und Sprays. In der Schulzeit hatte man ihn zweimal zur Luftkur verschickt. Einmal über tausend Meter hoch in die Alpen. Ein anderes Mal auf ein flaches Inselchen in der Nordsee.
Johannes war sein Leben lang der Hansi geblieben. Und das mit einem n. Auch jetzt noch kurz vor der Rente. Weil damals eben mickrig und schwach auf der Brust.
Dabei war Johannes immer übermäßig über seine Gesundheit besorgt. Und dafür hatte es keinen dreimal klugen Fernsehberichts bedurft. Schon gar nicht der Belehrung, dass gesunde Luft ein hohes Gut bedeutet.

Johannes wusste Bescheid. Schließlich arbeitete er tagein tagaus in und über Gräbern in freier Luft. Und dass die Menschen bei jedem Atemzug Schadstoffe aufnehmen und obendrein falsch atmen, war ihm sattsam bekannt.
Bei jedem Luftholen strömen also Giftstoffe ein. Eine unvorstellbare, entsetzliche, ja tödliche Menge gerechnet auf die Lebensjahre. Und die Verwschmutzungen nehmen eher zu.
Die meisten Menschen sind sich dieser Gefahr nicht bewusst und machen vieles falsch. Natürlich ist auch die tägliche Fresserei ungesund. Aber Hungerkünstler wollte Johannes deswegen nicht werden: Obwohl er jetzt dick und kugelrund daherkam. Das Alleinsein und viele Fernsehgucken ließen ihn zur Leidenschaft verführen, Unmengen Chips und Süßigkeiten im wöchentlichen Wechsel zu verschlingen. Sein tägliches Bier trug er in Stofftaschen in die Dachwohnung nach oben. Für Kisten war er zu rund und schlaff. Schon auf dem ersten Treppenabsatz blieb ihm die Puste weg. Die verdammten Putzfrauen mit ihren Giftbrühen. Doch hungern, dass man am Ende am Magen vorbei zwar nicht die Zeitung lesen konnte, aber doch die Helle des gegenüberliegenden Fensters wahrzunehmen war. Sofort vielen ihm auch die anderen Verrücktheiten ein: Sich einmauern oder einfrieren lassen. Unter Wasser aushalten, auf einer Säule stehen, Dauerduschen... Bloß Sensationshascherei. Bei Hanns war das anders. Ernster. Todernst. Da wollte er schon lieber Luftkünstler sein. Mit der Luft kannte er sich aus. Ein- und Ausatmungskünstkler.

Johannes begann seine Strategie damit, dass er weniger ein- als ausatmete. Neben Energien und Wasser sollte es wohl auch zu einer Luftknappheit kommen. Mit der Zeit brachte es Johannes zu einer Kunstfertigkeit, immer nur noch die Hälfte einzuatmen. Ausatmen war angesagt. Wegen der Giftstoffe. Aus dem fernen Osten war ihm ausserdem bekannt, dass richtiges Ausatmen nicht nur lebensverlängernd ist. Kunstfertiges Ausatmen macht den Menschen frei zu ungeahnten Ebenen eines höheren Bewußtseins.
Nach Monaten harten Trainings brachte es der Alte zu einer solchen Meisterschaft, dass er innerlich total gereinigt, dafür äußerlich blass und kraftlos daherkam. Was ihn nicht beunruhigte, war er doch Wegweiser für viele, die ihm nacheifern würden. Und ihn endlich Johannes nennnen müssten. Oder doch wenigsten Hannsi mit nn.
Nach weiteren Wochen war er völlig entgiftet und entkräftet. Er kam aus dem Stubensessel kaum noch hoch. Den Friedhof wollte er sowieso verlassen. Bis zur Rente war nur noch eine kurze Wegstrecke. Atemstrecke. Luft nahm er nur noch, wenn unbedingt nötig und dann in kleinsten Zügen. Wie eine Wasserschildkröte den Kopf rausnimmt, um dann für lange Zeit unter Wasser zu bleiben.
Am Ende schloss er sich in seinem Dachzimmerchen ein. Und maulte nach Luft wie ein Fisch, den der Angler aufs Land geworfen hat. Den Umwohnenden war nichts aufgefallen.
Erst nach weiteren Wochen fand man ihn reglos. Er lag zusammengerollt auf dem Teppich mit heraushängender Zunge. Blauköpfig, tot. Durch den weit aufgerissenen Mund strömte Luft wie durch ein geöffnetes Fenster nach einem erlösenden Gewitterregen, nach tagelanger Schwüle.

 

 

 

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